Stimmrechtsbeschwerden in vier Kantonen – Kirchliches Engagement für die sog. Konzernverantwortungsinitiative ist bundesverfassungswidrig
Über 650 Kirchgemeinden und Pfarreien haben sich im Abstimmungskomitee «Kirche für Konzernverantwortung» zusammengetan und bewerben nun vehement und schweizweit koordiniert die Konzernverantwortungsinitiative. Mit ihrer Mitgliedschaft in einem nationalen Abstimmungskomitee, mit ihren zahlreichen Propagandaaktionen wie Plakatierungen und Beflaggungen von Kirchen und Kirchtürmen, Informationsveranstaltungen, Mitteilungen und propagandistischen Predigten, verhält sich das Abstimmungskomitee politisch nicht neutral und interveniert in den Abstimmungskampf zur Konzernverantwortungsinitiative. Dieses Verhalten ist unserer Ansicht nach bundesverfassungswidrig und bedarf einer gerichtlichen Überprüfung. In den Kantonen Aargau, Thurgau, Bern und St. Gallen wurden deshalb seitens Jungfreisinniger gestern Abend Stimmrechtsbeschwerden erhoben. Die festgestellten Verletzungen der politischen Rechte müssen umgehend und ohne jegliche Verzögerung unterbunden und weitere Verletzungen unter allen Umständen verhindert werden.
Die öffentlich-rechtlichen Kirchen, welche als öffentlich-rechtliche Körperschaften konstituiert sind, sind dem staatlich gesetzten Recht unterworfen und damit an die Grundrechte gebunden, insbesondere auch an die grundrechtlich geschützte Abstimmungsfreiheit (Art. 34 Abs. 2 BV). Sie sind damit grundsätzlich zur politischen Neutralität verpflichtet. Dies muss umso mehr gelten, als dass sie von Privaten und teilweise von Unternehmen Steuern erheben. Die besagten Kirchen dürfen im Sinne der geltenden Rechtsprechung des Bundesgerichts in einen Abstimmungskampf zum vornherein nur dann intervenieren, wenn sie von einer Vorlage besonders bzw. qualifiziert betroffen sind. An einer solchen besonderen Betroffenheit mangelt es ihnen jedoch insbesondere deswegen, weil sie nicht mehr als andere Gemeinwesen von der betroffenen Abstimmungsvorlage betroffen sind und weil es sich bei der Konzernverantwortungsinitiative um ein allgemeines tagespolitisches Geschäft handelt, welches weder die Kirche als Institution noch ethische Glaubensfragen betrifft1. Insbesondere werden die Kirchen auch bei Ablehnung der Initiative nicht daran gehindert, ihrem kirchlichen Auftrag nachzugehen. Daraus folgt, dass die Kirchen sich strikt politisch neutralen zu verhalten haben. Selbst wenn sich die betreffenden Kirchen grundsätzlich im Abstimmungskampf zur Konzernverantwortungsinitiative äussern dürften, würden ihre Interventionen einer demokratischen Legitimation (gesetzliche Grundlage) entbehren sowie die Gebote der Sachlichkeit, der Transparenz und der Verhältnismässigkeit und damit gleichzeitig Art. 34 BV verletzen. Sie gehen insbesondere mit ihren Propagandahandlungen weit über das sachlich Zulässige hinaus. Damit steht fest, dass die Kirchen Art. 34 BV verletzt haben und weiterhin verletzen. Aufgrund der anhaltenden und vielfältigen Interventionen in der «heissen Phase» des Abstimmungskampfes zur Konzernverantwortungsinitiative, welche auch mit Mitteln des Kirchensteuerzahlers finanziert wird, müssen sämtliche weitere Interventionen in den Abstimmungskampf umgehend untersagt werden. Die Jungfreisinnigen haben zu diesem Zweck in vier Kantonen Stimmrechtsbeschwerden erhoben.
1 Die Konzernverantwortungsinitiative verlangt im Wesentlichen, dass Unternehmen mit Sitz in der Schweiz die international anerkannten Menschenrechte und Umweltstandards auch im Ausland respektieren müssen. Damit geht insbesondere auch eine Haftungsregelung für das Fehlverhalten unabhängiger Geschäftspartner im Ausland einher.